Das verflixte siebente Jahr - Der Versuch einer Einschätzung

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Das verflixte siebente Jahr - Der Versuch einer Einschätzung

Beitrag von 1912 » 18.08.2015 16:50

Ich hatte - auch weil es in Rostock keine freien Hotelzimmer mehr gab - am Wochenende etwas Zeit, meine Gedanken zur bevorstehenden TuS-Saison mal grob zusammenzufassen...
Das verflixte siebente Jahr - Der Versuch einer Einschätzung vor Beginn der 26. Bundesligasaison des TuS Nettelstedt-Lübbecke

Länger als sieben Jahre konnte sich der TuS Nettelstedt-Lübbecke bislang nie in der Bundesliga halten. In den Spielzeiten 1982/1983 und 2000/2001 musste der Verein am Ende des "verflixten" siebenten Jahres der Zugehörigkeit zur ersten Liga absteigen. 2015/2016 ist das siebente Spieljahr nach dem Wiederaufstieg 2009.

Wie sind die Chancen, erstmals in der Klubgeschichte das achte Bundesliga-Jahr in Folge zu erreichen?

Zunächst zum Formalen: Die Sondersituation der vergangenen Saison ist bereinigt. Die Liga startet wieder mit 18 Mannschaften. Am Ende steigen die drei Letzten der Tabelle ab. Eine Relegation gibt es nicht. Sollte ein Verein, der nicht zu den sportlichen Absteigern gehört die Lizenz nicht erhalten, steigen neben diesem nur der Vorletzte und Letze ab.

Oder kurz: Wer "drin" bleiben will, muss drei Mannschaften hinter sich lassen und nicht mehr vier, wie zuletzt.

Wie ist der "Status-Quo" beim TuS Nettelstedt-Lübbecke?

Der neue Trainer Goran Suton hat einen Kader mit 14 Profis zur Verfügung. Das bedeutet einerseits, dass sämtliche Spieler auch auf den Spielbericht kommen und sich der Trainer "keinen Kopf" machen muss, wer hinter der Bank bleiben muss. Andererseits aber auch einen gewagt kleinen Kader.

Schließlich ist der TuS in der vergangenen Serie verletzungs- oder krankheitsbedingt nicht einmal komplett gewesen. In der Vorbereitung war zu sehen, dass zu viele Ausfälle nicht kompensiert werden können.

Welche Risiken birgt der Kader?

Der TuS hat mit Tim Suton (19) und Vuko Borozan (21) den jüngsten linken Rückraum der Liga – im Schnitt 20 Jahre alt. Beide Halblinken verfügen über jeweils etwa ein halbes Jahr Erstligaerfahrung; zweifelsohne aber auch über ein großes Entwicklungspotenzial.

Das Risiko liegt auf der Hand, aber auch die Chance. Risiko und Chance sind ohnehin die Kehrseiten derselben Medaille. Spieler wie Pieczkowski, Schöngarth, Langhans, Tauabo etc. haben einen riesigen Leistungssprung nach vorne gemacht, als sie Spielzeit in der ersten Liga bekamen. Zudem ist Niklas Pieczkowski auch im linken Rückraum Position einsetzbar, sodass Goran Suton nicht vollständig auf die „Jungspunde“ angewiesen ist.

Mit Vuk Lazovic wurde die zentrale Deckungsposition neu besetzt. Zwar muss Lazovic noch die deutsche Sprache lernen und sich in einem neuen Umfeld zurecht finden; aber immerhin ist auch in hektischen Spielsituationen die Kommunikation mit den Torhütern möglich. Ein Aspekt, der nicht unterschätzt werden darf, wie man zu Beginn der vergangenen Saison mit bekanntem Ergebnis in Minden gesehen hat.

Ob sich Lazovic im Angriff körperlich gegen die im Regelfall sehr robusten Innenverteidiger der Konkurrenz durchsetzen kann, wird sich zeigen. Die in der Vorbereitung gezeigten Ansätze lassen auf ein sehr gutes Sperre-Absetz-Verhalten des Neuzugangs hoffen.

Zudem sollte Christian Klimek nach einer auch verletzungsbedingt „unrunden“ Premierensaison in dieser Spielzeit den Durchbruch schaffen können.

Der Trainer

Bei der Auflistung der ins Auge fallenden Risiken darf auch die Besetzung des Trainerpostens nicht unerwähnt bleiben. Goran Suton verfügt als Trainer über ein knappes Jahr Bundesligaerfahrung, die er in der Saison 2009/2010 mit einer zugegebenermaßen nicht konkurrenzfähigen Mannschaft der HSG Düsseldorf sammelte.

Goran Suton präsentierte sich in seinen ersten Wochen in Lübbecke als sehr offen, sympathisch, überaus kommunikativ, gut über seine neue Heimat informiert, ehrgeizig, zuversichtlich, zielstrebig, hoch motiviert und wirkte unverbraucht. Das kann zu einer großen Stärke werden.

Goran Suton legt sehr viel Wert darauf, dass die Mannschaft zusammenwächst und sich – anders als zuletzt - über die gesamte Saison als Mannschaft präsentiert. Mit eben aufgeführten Eigenschaften des Trainers steigen die Chancen, dieses Ziel zu erreichen; ähnlich wie in Lemgo in der Saison 13/14 als Niels Pfannenschmidt mit ähnlichen Eigenschaften dort Trainer einer - so wie er selber - recht unerfahrenen aber am Ende die Fans begeisternden Mannschaft wurde.

Sehr spannend zu beobachten wird aber sein, wie Goran Suton in der Liga mit der weltweit größten Leistungsdichte damit umgeht, über die Einsatzzeiten seines Sohnes Tim zu entscheiden. Die Konstellation „Vater trainiert Sohn“ birgt auf diesem hohen sportlichen Niveau im Innen- und Außenverhältnis schon aus der Natur der Sache heraus viel Konfliktpotenzial für den „Betriebsfrieden“ innerhalb einer Profimannschaft; erst recht, wenn es im Laufe einer Saison mal nicht so laufen sollte wie gewünscht oder (vom Umfeld) erwartet.
Das könnte ein ständiger „Ritt auf der Rasierklinge“ werden, der eigentlich nur mit dem „gepolsterten Sattel“ Erfolg bequem werden kann.

Die Stärken des Kaders?

Zweifelsohne die Mitte und der rechte Rückraum. Niclas Pieczkowski hat sich trotz eines Drago Vukovic auf seiner Position in seinem ersten Jahr beim TuS zum Nationalspieler entwickelt und auch im Trikot des DHB überzeugende Leistungen gezeigt. „Pietsche“ ist auch in der Abwehr eine Bank und nicht nur auf den Halbpositionen, sondern auch im Deckungszentrum einsetzbar. Mit Benni Herth konnte ein sehr erfahrener und von Dr. Rolf Brack taktisch hervorragend ausgebildeter Spieler für diese Position hinzugewonnen werden. In der Mitte ist der TuS überdurchschnittlich gut besetzt.

Wie auch im rechten Rückraum, wo sich Jens Schöngarth und Gabor Langhans prima ergänzen. Platt gesagt: Ein „Shooter“ und ein „Wühler“ mit Auge, der auch dann noch sehr gefährlich ist, wenn er „festgemacht“ scheint: Das hat längst nicht jeder Konkurrent aufzubieten, erst recht nicht, weil beide auch in der Lage sind, in der Deckung ordentlich zu agieren.

Auch die linke Außenposition ist mit Tim Remer und Jens Bechtloff sehr ordentlich besetzt.

Das realistische Ziel?

Das realistische Ziel kann in meinen Augen nur Klassenverbleib heißen.

Warum? Nun, aus der Erfahrung und TuS-Historie in diesem Jahrtausend muss nüchtern festgestellt werden, dass der TuS – egal unter welchem Trainer und mit welcher Mannschaft – in der ersten Liga immer mindestens sechs Punkte unter den realistischen Möglichkeiten geblieben ist und über Gebühr leichtfertig Spiele abgeschenkt hat. Die Gründe hierfür sind scheinbar noch nicht gefunden und damit auch nicht beseitigt worden. Demnach ist es keine Schwarzmalerei - sondern vielmehr realistisch -vorerst davon auszugehen, dass dem TuS dieses Mysterium erhalten bleibt.

Aber selbst wenn man diesem „historischen Ansatz“ nicht folgen will und nur auf das „Jetzt“ schaut, fällt auf:

Die eine oder andere personelle Entscheidung war sehr mutig, alle aber durchweg sympathisch und sicher auch wirtschaftlichen Zwängen geschuldet.

Der TuS verfolgt sein Konzept, wenn machbar auf junge Spieler zu setzen, auch in dieser Saison konsequent weiter. So gibt es die Grundlage für eine höhere Toleranzgrenze im Umfeld und bei den Fans. Voraussetzung ist allerdings, dass die Mannschaft vor allem bei den Heimspielen entsprechend auftritt. Dann werden Fehler leichter verziehen werden und die Geduld bei allen Beteiligten wird größer.

Mannschaft und Trainer haben allerdings unter der Bürde der unsäglichen Heimauftritte der vergangenen 18 Monate zu leiden. OK, das ist wieder ein Blick zurück. Allerdings ist dieser notwendig, weil aus diesem eine ganz konkrete Auswirkung auf die Gegenwart folgt: Der u.a. in Heimspielen wie Emsdetten, Minden, Berlin, Hamburg, Gummersbach, Friesenheim und Balingen leichtfertig verspielte Kredit muss jetzt zurückgewonnen werden. Das Auftaktprogramm macht das nicht leichter. Von einem guten Start in Eisenach und Magdeburg wird also viel abhängen.

Wer sind die Konkurrenten?

Letztlich scheint die Liga in dieser Saison noch ausgeglichener zu sein, als in der abgelaufenen Runde. Oben wie unten. So ist es sehr wahrscheinlich, dass am Ende Kleinigkeiten und so genannte „weiche Faktoren“ für den Erfolg ausschlaggebend und entscheidend sein werden. Im Letzteren war der TuS - diplomatisch ausgedrückt - in der Vergangenheit nicht unbedingt Marktführer.

Neben den drei Aufsteigern aus Stuttgart (= Bittenfeld), Leipzig und Eisenach dürfte auch für Lemgo, Wetzlar, den Bergischen HC und Balingen das oberste Ziel Klassenverbleib heißen.

Oft rutscht noch eine Mannschaft ab, mit der im Vorfeld in diesen Tabellengefilden nicht unbedingt zu rechnen war.

Die Chancen

Im Kern wird es darum gehen, möglichst schnell 24 Punkte auf die Habenseite zu bekommen und – das ist leicht gesagt – in kritischen Saisonphasen die Geduld zu behalten.

Das Potenzial dafür ist vorhanden; es braucht aber auch das Glück des Tüchtigen. Zwei längerfristige Verletzungen könnten schon das Genick brechen. Ebenso wie das Scheitern des Versuchs, eine geschlossen auftretende Mannschaft zu formen, in der jeder Einzelne nicht nur mit Spaß seinen Job macht, sondern sich mit dem Lübbecker Land und Leuten hier identifiziert und zwar auch dann noch, wenn ggf. ein Wechsel zu einem Konkurrenten feststehen sollte.

Geht man davon aus, dass verletzungsmäßig alles im Rahmen verläuft, wird der TuS mindestens drei Mannschaften hinter sich lassen. Dafür ist die individuelle Stärke der einzelnen Spieler im Vergleich z.B. zu den Aufsteigern zu groß. Wenn - und das war beim TuS leider oft das Wenn: Wenn man sich im Laufe der Saison nicht selbst ein Bein stellt…

Der Wunschgedanke

So wie oft eine Mannschaft in den Abstiegsstrudel gerät, mit der an dieser Stelle nicht zu rechnen war, so überrascht meist auch ein Team positiv, das vorher als abstiegsgefährdet eingestuft worden ist.

Dieses Überraschungsteam könnte ja in diesem Jahr ausnahmsweise einmal der TuS sein?!

Dann würde aus dem „verflixten“ ein „vergnügtes“ siebentes Jahr, dem dann auch das achte in der Bundesliga folgt.

Meinetwegen gerne!
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hummel
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Re: Das verflixte siebente Jahr - Der Versuch einer Einschät

Beitrag von hummel » 18.08.2015 17:30

Was 8216 Beiträge nicht alles so bewirken.
Mir fällt nichts anderes ein, als dem Texter ein dickes Kompliment zu machen. Da spricht wohl einer mit ein "wenig" Handballverstand ein paar zutreffende Worte.
Eine grobe Zusammenfassung nennst du also den vorherigen Text? Na,denn sei es so.

Gruß
hummel

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Re: Das verflixte siebente Jahr - Der Versuch einer Einschät

Beitrag von Sprinter Jens » 18.08.2015 18:16

Sehr sachlich und gut geschrieben Helge. Ich persönlich bin auf die neue Saison gespannt. Ich drücke Goran und seinen Jungs die Daumen :).

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The Kay
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Re: Das verflixte siebente Jahr - Der Versuch einer Einschät

Beitrag von The Kay » 18.08.2015 19:48

Prima zusammengefasst, Helge.

Elementär ist und wird sein, dass wir möglichst verletzungsfrei bzw. mit nur recht kurzen Verletzungspausen durch die Serie kommen. Wunschdenken. Hinzu kommt, zu jedem Spiel - sei es nun Kiel oder Eisenach - von Beginn an die richtige seriöse Einstellung zu haben, damit es hinterher kein böses Erwachen gibt bzw. es zu erneuten peinlichen (Heim)Auftritten kommt. Schön wäre es auch, wenn sich unser Team sowohl auf als auch abseits des Feldes auch als solches präsentiert. Eine Stärke, die vor allem "kleinere" Teams über die letzten Jahre gegen uns als Trumpf spielten.

Ziel sollte wohl der Klassenerhalt sein, der hoffentlich so schnell wie möglich eingetütet wird.

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